Geschichte & Kultur

Wie die Tomate Europas Küche eroberte – und warum das 200 Jahre dauerte

Heute gehört sie zu den beliebtesten Früchten der Welt. Doch die Tomate brauchte schlappe 200 Jahre, um Europa kulinarisch zu erobern. Der Grund ist so absurd wie tödlich.

Geschichte & Kultur  |  Lesezeit: ca. 7 Min.
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Zwischenablage

Eigentlich hätte alles ganz einfach sein können. Christoph Kolumbus soll erstmalig 1498 auf die Tomate aufmerksam geworden sein und diese nach seiner zweiten Amerika-Reise mit nach Europa gebracht haben – nicht die Früchte selbst, sondern Stecklinge der Pflanzen. Damit zählt die Tomate in Europa zu den kultivierten Pflanzen, die nach 1492 den Weg über den Atlantik fanden.

Spannend ist dabei, dass die rote Kugel ursprünglich gar nicht aus Mexiko stammte, wo sie Kolumbus entdeckte. Die Tomate stammt ursprünglich aus Südamerika, aus dem Gebiet um die Anden. Das liegt im heutigen Peru, Bolivien, im Norden von Chile und in Ecuador. Dort wurden die Tomaten von den Ureinwohnern, den Inkas und den Azteken gezüchtet. Die Azteken nannten sie „tomatl" – ein Name, der sich durch alle europäischen Sprachen bis heute gehalten hat.

Die Geschichte der Tomate in Italien begann am 31. Oktober 1548, als der toskanische Großherzog Cosimo di Medici erstmals einen Korb voll Tomaten von seinem Landgut erhielt. Man stelle sich vor: Ein ganzer Korb dieser seltsamen, roten Dinger landet auf dem Tisch eines italienischen Fürsten. Was er wohl damit angestellt hat?

Zierpflanze statt Zutat – die ersten 150 Jahre

Nun könnte man meinen, dass sich die Tomate in den italienischen Küchen sofort durchgesetzt hätte. Doch weit gefehlt! In ganz Europa wurden Tomaten vorwiegend als Zierpflanzen genutzt, da man überzeugt war, dass deren Früchte nicht essbar oder sogar giftig seien. Tomaten wurden bis in das 18. Jahrhundert vorwiegend als Zierpflanze kultiviert, denn die Pflanzen galten damals als giftig.

Das klingt erstmal verrückt – immerhin sahen die Europäer ja, dass die Amerikaner die Dinger problemlos verspeisten. Aber die Angst hatte durchaus ihre Berechtigung. Durch ihre Ähnlichkeit zu einheimischen Nachtschattengewächsen, etwa der Tollkirsche und Alraune, hielt man sie lange für giftig, aber interessanterweise auch für aphrodisierend. Diese Verwirrung war nicht ganz von der Hand zu weisen – Tomaten gehören tatsächlich zur Familie der Nachtschattengewächse, genau wie ihre giftigen Verwandten.

Schnell brachte es die hübsche Blume zu beachtlichem Ruhm: 1640 hat der Adel aus Tolone dem Kardinal Richelieu als Akt der Hochachtung vier Tomatenpflanzen geschenkt. In Frankreich war es Brauch, dass die Männer der Dame ihres Herzens eine Tomatenpflanze als Zeichen ihrer Liebe überreichten. Romantisch, oder? Heute würde man vermutlich eher einen Strauß Rosen verschenken.

Der tödliche Irrtum der Reichen

Jetzt wird's richtig absurd. Denn die Tomate war nicht nur unschuldig – sie war sogar das Opfer eines historischen Krimis! Historiker Nicolas Godinot hat dafür eine erstaunlich einfache Erklärung: «Damals assen die Reichen häufig aus Zinn-Tellern. Das Problem: Die Säure der Tomate löst das Blei aus dem Zinngeschirr. Man geht davon aus, dass sich die Oberschicht so bei jeder Tomatenmahlzeit etwas mehr vergiftet hat».

Stell dir vor: Da experimentiert der eine oder andere mutige Adelige doch mal mit den roten Früchten, wird krank und stirbt womöglich sogar – natürlich war dann die Tomate schuld! Die Tomatensäure löste das giftige Blei von den Tellern, was zu Krankheiten führte. Die armen Leute, die aus Holz- oder Tongeschirr aßen, hatten hingegen keinerlei Probleme. Ein ziemlich perfider Zufall der Geschichte.

Dieses Missverständnis hielt sich hartnäckig und trug erheblich dazu bei, dass die Tomate über Jahrhunderte als gefährlich galt. Dabei hätte ein einfacher Tellerwechsel gereicht, um das Problem zu lösen. Aber wer dachte damals schon an so was?

Südeuropa wagt den ersten Biss

Diese Haltung änderte sich im Laufe des 17. Jahrhunderts allmählich. Interessant ist, dass es vor allem die südeuropäischen Länder waren, die zuerst Mut fassten. Das lag vermutlich daran, dass das warme Klima den Tomaten entgegenkam und sie dort besser gediehen. Außerdem waren die Menschen in Spanien und Italien möglicherweise experimentierfreudiger, was neue Zutaten anging.

Seitdem wurde die Tomate vor allem in Südeuropa kultiviert, während sie in Deutschland und anderen nördlichen Ländern noch lange skeptisch beäugt wurde. Über Spanien, Portugal und Italien erreichte sie schließlich auch Deutschland, wo sie 1553 erstmals erwähnt wurde. Früher wurde die Tomate als Zierpflanze behandelt – ein Umstand, der sich erst sehr langsam ändern sollte.

Die ersten Kochrezepte mit Tomaten entstanden vermutlich in Italien, wo findige Köche erkannten, dass sich die säuerlich-süße Frucht hervorragend für Saucen eignete. Aber auch hier dauerte es noch Jahrzehnte, bis sich die Tomate wirklich durchsetzte.

Das 18. Jahrhundert bringt die Wende

Erst im 18. Jahrhundert begann sich das Blatt zu wenden. Die Menschen wurden mutiger, die Aufklärung sorgte für mehr wissenschaftliches Denken, und langsam setzte sich die Erkenntnis durch, dass Tomaten doch nicht so gefährlich waren, wie gedacht. Hinzu kam, dass immer mehr Reisende aus den amerikanischen Kolonien zurückkehrten und von den köstlichen Tomatengerichten schwärmten, die sie dort probiert hatten.

Trotzdem war der Durchbruch ein zäher Prozess. Während die Oberschicht allmählich ihre Vorurteile ablegte, blieb die breite Bevölkerung noch lange skeptisch. Schließlich hatte man ja über Generationen hinweg gehört, dass diese roten Dinger giftig seien. Solche tief verwurzelten Überzeugungen lassen sich nicht von heute auf morgen ändern.

Ein entscheidender Faktor war auch die verbesserte Züchtung. Im Laufe der Jahre wurde auch in Europa eine atemberaubende Anzahl an verschiedenen Tomatensorten für die verschiedensten Zwecke gezüchtet. Je schmackhafter und vielfältiger die Sorten wurden, desto größer wurde auch die Akzeptanz.

Von der Zierde zum Grundnahrungsmittel

Was folgte, war eine ziemlich beeindruckende Aufholjagd. Innerhalb weniger Jahrzehnte entwickelte sich die einst gefürchtete „Giftpflanze" zu einem der beliebtesten Gemüse Europas. Italien wurde zum Vorreiter – dort entstanden die ersten Tomatensaucen, die heute aus der Küche nicht mehr wegzudenken sind.

Besonders faszinierend ist, wie sich die Tomate an die verschiedenen europäischen Geschmäcker anpasste. In Italien wurden eher süßliche Sorten bevorzugt, die sich gut für Saucen eigneten. In Deutschland setzte man auf fleischige Varianten, die sich gut einmachen ließen. Und in England? Da dauerte es noch mal deutlich länger, bis sich die Tomate durchsetzte – die Briten waren schon immer etwas konservativer, was neue Zutaten anging.

Die industrielle Revolution tat ihr Übriges. Mit besseren Transportmöglichkeiten und neuen Konservierungstechniken konnten Tomaten auch in Gebiete gebracht werden, wo sie vorher nicht verfügbar waren. Plötzlich war es möglich, auch im Winter Tomaten zu essen – ein absoluter Luxus für die damalige Zeit.

Heute undenkbar: Europa ohne Tomate

Wenn man heute durch einen europäischen Supermarkt geht, kann man sich kaum vorstellen, dass es Zeiten gab, in denen Tomaten als gefährlich galten. Pizza ohne Tomatensauce? Pasta ohne Sugo? Gazpacho ohne das rote Hauptzutät? Völlig undenkbar!

Heute sind Tomaten aus unseren Küchen nicht mehr wegzudenken. Sie sind zu einem der wichtigsten Gemüse der europäischen Küche geworden und haben längst ihren Platz als Grundzutat in unzähligen Gerichten gefunden. Vom einstigen Aschenputtel zur absoluten Königin der Küche – diese Verwandlung ist schon bemerkenswert.

Dabei ist die Geschichte der Tomate in Europa auch eine Geschichte von Mut und Experimentierfreude. Es brauchte Menschen, die bereit waren, über ihren Schatten zu springen und etwas Neues auszuprobieren. Ohne sie wäre die europäische Küche heute deutlich ärmer.

Die 200-jährige Odyssee der Tomate durch Europa zeigt auch, wie langsam sich kulinarische Gewohnheiten ändern können. Was uns heute selbstverständlich erscheint, musste sich über Jahrhunderte hinweg seinen Platz erkämpfen. Ein bisschen Demut ist da schon angebracht – wer weiß, welche heute noch unbekannten Zutaten in 200 Jahren ganz normal auf unseren Tellern liegen werden?

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